Um 17 Uhr ist die Herz-Jesu-Kirche in der Fehrbelliner Straße gut gefüllt. Etwa 500 bis 600 Menschen sind gekommen, um der Pogromnacht vor 75 Jahren zu gedenken. Die beiden großen Wandgemälde im Altarraum – die siegreiche Ecclesia und die besiegte blinde Synagoga – sind Thema einer kleinen Andacht. Pater Immanuel macht deutlich, dass diese Darstellung als dauerhafte Mahnung zu verstehen ist, die uns zwingt uns mit den christlichen Ursprüngen von Judenfeindlichkeit auseinanderzusetzen. Dr. Andras Varga von der jüdischen Gemeinde (Rykestraße) liest eindringliche Gedichte und den 130. Psalm auf Hebräisch und Deutsch. Nach der Andacht bewegt sich die große Prozession im Schein von Kerzenlicht zum Teuteburger Platz, wo sie mit Klarinettenmusik empfangen wird. Hier erinnert man sich an das Jüdische Kinderheim (heute Nachbarschaftshaus), das 1910 erworben und 1942 geschlossen werden musste. Für die deportierten Kinder und Erzieherinnen spricht Dr. Varga das jüdische Gebet der Trauernden – das Kaddisch. Er spricht es auch an den weiteren Stationen. In der Christinenstraße gedenkt die Gruppe zusammenmit der Sozialarbeiterin Eva Nickel des grausamen Schicksals ihrer beiden kleinen Halbschwestern. Das kurze Leben der 1937 und 1939 geborenen Ruth und Gittel Süssmann endete 1944 in Auschwitz. Gedacht wird auch an Bertha und Hermann Falkenberg, die sich für jüdisches soziales und religiöses Leben eingesetzt hatten. Der Weg führt über die Schönhauser Allee zum Senefelder Platz. Die Metzer Straße war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein jüdischer Kiez mit Synagogen und jüdischen Heimatvereinen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung hier im Süden des Prenzlauer Bergs betrug 10 %. Östlich vom Jüdischen Friedhof verläuft der sogenannte „Judengang“, der 2003 rekonstruiert wurde und sonst unzugänglich ist. Heute darf der Zug diesen abgelegenen, Legenden-umwobenen Weg, der zum Kollwitzplatz führt, passieren. Am Kollwitzplatz haben sich mittlerweile die „Big-Band- und Orchesterbläser“ des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums postiert. Unter Leitung von Martin Schmidt begrüßen sie die Ankommenden mit dem Musikstück „Mein kleiner grüner Kaktus“ – bekannt durch die Comedian Harmonists, deren drei nichtarische Sänger 1935 Berufsverbot erhielten. Das abrupte Abbrechen der Melodie soll an das Wegbrechen der jüdischen Kultur erinnern. Bernt Roder, der Leiter des Museums Pankow, stellt Nikki van der Zyl vor, die Tochter des Berliner Rabbiners Werner van der Zyl, die als Vierjährige mit ihren Eltern nach England emigrierte. Sie ist zur Eröffnung der Ausstellung „Night Flight to Berlin“, die im Museum Pankow die Familiengeschichte der van der Zyls zeigt, nach Berlin gekommen. Der Erinnerungsweg endet vor der Synagoge in der Rykestraße. Noch einmal spielen die „Big-Band- und Orchesterbläser“ – diesmal ein Motiv aus Arnold Schönbergs Oratorium „Ein Überlebender aus Warschau“. Pfarrer Christian Zeiske berichtet, wie diese wunderbare Synagoge, eine der größten Deutschlands, die Nazi-Zeit so relativ unbeschadet überstehen konnte. Der Pankower Bezirksbürgermeister Dr. Matthias Köhne spricht ein Dankeswort und äußert seine Freude über das Wiedererstarken jüdischen Lebens in Berlin. Mit dem gemeinsam gesungenen Lied „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und der hebräischen Hatikvah (jüdische Nationalhymne), gesungen von Dr. Varga, findet die Veranstaltung ein würdevolles Ende.
Veranstaltet wurde der Erinnerungsweg vom Ökumenischen Arbeitskreis Prenzlauer Berg in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Herz Jesu. Die Veranstalter danken Dr. Andras Varga und der jüdischen Gemeinde Rykestraße, den Zeitzeugen Eva Nickel und und Nikki van der Zyl, Bernt Roder, Dr. M. Köhne, Regina Scheer (Autorin), Marcellus Jany (Klarinette), Martin Schmidt mit den „Big-Band- und den Orchesterbläsern“ des Carl-von Ossietzky-Gymnasiums und den Einsatzkräften der Polizei.
Lilo Heine